Sich selbst erkennen ist möglich durch die Reflektion auf sich selbst. Sich wahrnehmen und reflektieren - der Erkennungsreflex:
Der Erkennungsreflex ist sicherlich nicht nur ein romantisches Thema, nicht nur ein Gegenstand der Sehnsucht. Er signalisiert Gemeintsein – deshalb taucht der Sachverhalt in unterschiedlichen Variationen in allen Religionen auf.
Doch das Stichwort Erkennungsreflex ist etwas, das wir im Zusammenhang allein mit uns selbst, mit unserer Persönlichkeit betrachten dürfen; dass wir deshalb auch im Zusammenhang mit unseren sogenannten Schattenseiten, unseren Verwundungserfahrungen, unserer Verletzlichkeit, mit der Verwundetheit-an-sich betrachten müssen.
Ich meine, dass im Erleben des Erkennens unserer eigenen Person deutlich wird, dass der Erkennungsreflex uns selbst gilt, dass er in uns ausgelöst wird und uns Raum gibt, plötzlich all diese Verwundungserfahrungen, auch das Abstrakte des Verwundetwordenseins, das so sehr konkret ist, überwinden hilft - doch nur in dem Augenblick, in dem wir uns selbst auch diesen Raum erfühlbar lassen, den Raum des eigenen Sein-dürfens, unabhängig von irgendwelchen Erwartungen nach draussen.
In dem Augenblick, in dem wir das in uns so fühlen, vielleicht sogar während eines Zusammenseins mit einem anderen Menschen, der den eigenen Erkennungsreflex auch gerade in sich selbst fühlt, können wir plötzlich etwas erleben und erspüren, was tiefer reicht als alles, was wir bisher erfahren und erleben konnten. Wir wissen, dass das möglich ist. Wir wissen, dass diese Relationen hinter der Verwundung, sozusagen die Kommunikation der i-Punkte, möglich sind.
Mit i-Punkt bezeichne ich jene genuinen Anteile in uns, die einer Verwundung ausgesetzt gewesen sind und durch Lebensstilmethoden vor Wiederverwundung geschützt werden sollen.
Wie sonst wäre es zu erklären, dass wir genau dieser Kommunikation in uns selbst so oft aus dem Wege gehen? Wie sonst wäre es zu erklären, dass wir uns selbst, und sei es mit dem Jargon und mit uneigentlicher Sprache, immer wieder neu aus dem Wege gehen, um in der Entfremdung zu bleiben - inklusive dem daraus resultierenden Überlebenssystem? Wir ahnen, ohne dass das zum Ahnenkult werden muss, wir ahnen, dass es da noch etwas anderes gibt. Und da setzen Religionen mit ihren Angeboten ein, werben für ihre Ideen und meinen, sie hätten letztlich für “den” Menschen auch “das” Angebot.
Wir ahnen jedoch auch, dass es mit uns etwas anderes auf sich haben muss. Theoretisch wissen wir das alle: Wir sind geboren mit allem, was wir zum ”leben” brauchen. Theoretisch ist das alles klar. Es ist nachvollziehbar, es ist empirisch beschreibbar, aber nach unserer Verwundungskarriere können wir das ja wohl nur schwer auf uns selbst beziehen. Und doch ist es möglich, dies auf sich selbst zu beziehen, dass eben nicht nur die Möglichkeit und Fähigkeit erkannt wird, die Verwundetheit-an-sich und die perinatalen Verwundungen angemessen in Wörter zu formulieren, dass wir weiter denken können und damit handlungsfähiger werden. Es ist auch möglich, und wir sind auch fähig dazu, diese innere Gefühligkeit des Zentralen, dessen, was sich hinter all den Verwundungen verbirgt, oder anders ausgedrückt: die Kommunikation, die gefühlvolle Kommunikation der i-Punkte, in uns selbst wahrzunehmen. Für einen Augenblick dieses Erleben länger anhaltend erspüren, würde uns möglicherweise entweder süchtig machen oder sonst etwas ganz Schreckliches anrichten, so fürchten wir.
In dem Augenblick, in dem der Erkennungsreflex sozusagen in uns Raum greift, dass wir uns selbst erkennen können als die einzigartigen, mit Würde und Wert ausgestatteten Menschen, und dass wir uns dann auch in diesem Reflex anderen zu erkennen geben, dass das Erleben miteinander gefühlt und gespürt werden kann, geschieht es, dass Zeit und Raum ihre Dimensionalitäten für uns verlieren, dass wir spüren: hier ist Raum und Zeit für einen Augenblick aufgehoben. Darin zeigt sich jenes genuine Gefühl, das ich mit dem Namen Ewigkeit bezeichnet habe. In ihm wird ganz und gar gegenwärtig, für diesen Zeitraum des Erlebens, wirklich aufgehoben, was uns quält oder begrenzt, so dass in dem Moment unsere Existenzberechtigung fühlbar wird über die Gewissheit von Seindürfen - und dass Furcht aufgehoben ist.
Die Bereitschaft, die Gegenwart für sich selbst so zu akzeptieren, die Gegenwart anzunehmen, ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für das Erleben dieses Rechts auf Gegenwart, im Hier und Jetzt, bei Vermeidung des Mythos der Verbesserung und der Schuldfrage und des sorgenvollen Blicks in die Zukunft. Diese Annahme des Augenblicks, die dazu führt, dass wir per effectum uns selbst angenommen haben, offenbart ganz von alleine die Empfindungen von Geborgenheit und Freiheit, die unverwundbar immer wieder neu Energien dazu geliefert haben, dass wir einen Lebensstil entwickeln konnten, um uns am ”leben” zu erhalten.
Wir sind in der Lage, auf der Basis von Geborgenheit und Freiheit das Ja-sagen zu unserer eigenen Menschlichkeit so fühlen zu können, dass die Würde des Seindürfens plötzlich als Mut in uns wach wird, als eine Sprache unserer Physiologie, unserer inneren Expertin, die keinerlei Wörter bedarf, die keinerlei sonstiger Ausdrucksmöglichkeiten bedarf. Aus dieser Gefühlssituation heraus mögen sich dann alle möglichen Aktivitäten ergeben, aber in dem Augenblick, in dem sie geschieht, ist jedes Wort überflüssig, ist jede Tat überflüssig. Dieses Gefühl ist zwar mehrdimensional, wir können jedoch unsere Einheit darin erleben und damit auch die Würde des Sein-dürfens. Selbst wenn wir dieses Gefühl noch nie erlebt haben sollten, können wir uns theoretisch erschliessen, dass es möglich ist.
Wir können uns auch theoretisch dazu entscheiden, uns zumindestens den Zugang zu diesem Gefühl zu ermöglichen, indem wir das Wissen darum, dass das möglich ist, aus der Theorie so in die Gegenwart hineingeben können, dass wir per effectum tatsächlich diese Gefühle auch erleben können. Wer aber meint, er brauche vorher auch die Garantie, dass das auch zu einem guten Ende führt, oder er brauche die Garantie, dass das, was daraus resultiert, auch wirklich richtig ist, wer meint, er braucht jetzt unbedingt die Garantie, dass seine Menschlichkeit nachgewiesen, seine Existenzberechtigung als erlaubt dargestellt wird, der wird nur finden, dass er sich ständig im Kreise dreht - um sich selbst, fasziniert vom Dämonischen seiner Verwundung, fasziniert von seinen Defiziten, voller Anspruch, dass andere ihm nun endlich helfen müssten, sich zu ver-wirklichen.
Die Bereitschaft, sich selbst sozusagen als vom Sein infiziert zu erleben, sich selbst so zu erleben, dass wir das für uns als klare, nachvollziehbare Aussage sprachlich in uns wahrnehmen können, führt zu diesem Erleben, dass das Sein an sich selbst teilgibt, und dass das für das Sein selbstverständlich, aber nur dem Sein selbst verständlich ist. Wir brauchen unsere Existenzberechtigung nicht nachzuweisen, wir brauchen nicht das ”Warum?” und das ”Woher?” zu suchen, wir brauchen noch nicht einmal das ”Wohin?” zu wissen, denn eine Grenzerfahrung gibt uns die Möglichkeit zur Sinnerfahrung und bedeutet nicht Schuldspruch mit Todesurteil. Wer zum ”Warum?”, ”Wieso?” oder ”Wohin?” aufruft, will sich übermenschlich gebärden, da unsere menschliche Physiologie keine Organe dafür zur Verfügung stellt. Er muss dem Mythos vom Supranaturalismus frönen und behaupten, er wisse alles ganz genau, weil es der oder der, die oder die Gottheit gesagt habe. Die Möglichkeit und die daraus resultierende Fähigkeit, die eigene Lebendigkeit im Augenblick zu erleben, hilft nicht nur dabei, dass wir regenerieren können, sondern hilft auch, sich selbst zu verstehen.
In dem Maße, wie wir bereit sind, uns selbst zu verstehen, können wir auch das Unverständliche, das Eigene anderer zumindest über unsere physiologische Organisation der Wahrnehmung akzeptieren. Auch wenn wir in den tiefsten Tiefen Individuen bleiben: der Respekt vor sich selbst in der Wahrnehmung der eigenen Würde gibt den Mut, Respekt anderen gegenüber zu erfühlen und auch zu erleben. Gemeinschaft ist und bleibt ein Effekt. Auch Partnerschaft ist keine Frage der genetischen Vorherbestimmung. Wir sind vielmehr genetisch hervorragend ausgestattet dafür, uns selbst zu verstehen und im eigenen Verstehen auch einen Umgang in der Gemeinschaft möglich zu machen, der allen das Recht auf Gegenwart zugesteht. Und aus diesem Recht auf Gegenwart folgt erst einmal unmittelbar das Recht auf die eigene Persönlichkeit, die nicht geopfert zu werden braucht. Und das Recht auf die eigene Persönlichkeit gibt jedem Menschen die Möglichkeit, die eigene Richtigkeit auch als berechtigt empfinden zu können. Daraus resultiert dann auch die Fähigkeit, das Recht zu spüren, sich selbst Frucht zu sein, sich selbst fühlen und spüren zu können und dabei festzustellen, dass das asymmetrische Element nicht nur bei Passivierungen notwendig ist, sondern dass glücklicherweise in der menschlichen Gemeinschaft die Asymmetrie das Vorherrschende oder Vorfrauschende ist; denn das Männlich-Weibliche Prinzip in uns ist selbst asymmetrisch, miteinander geht es erst recht asymmetrisch zu, und die Asymmetrie, die Andersartigkeit der Individualitäten, ist die Notwendigkeit der Offenheit aller lebendigen Systeme und bleibt uns, solange wir leben.