Walter Alfred Siebel: Individuum und Umwelt
Jedes Individuum existiert in Relation zu etwas, was außerhalb des Individuums ist. Der Versuch einer Trennung führt in die Isolation und damit zum Abbau biologischer Funktionen. Die Angewiesenheit auf Außenimpulse und auf Bewegungsfähigkeit in einem Raum sind für jedes Individuum von vitalem Interesse. Diesen Impulsen und diesem Raum zugewandt fördert es die Anwendung von Konsequenzen auch des Interesses an sich selbst. Die Zuwendung zu solcherart regenerativen Möglichkeiten ist identisch mit einer angemessenen Zuwendung sich selbst gegenüber. Diese Zuwendung (Adversion) folgt physiologisch auch dem Wunsch, sich einzubringen. Denn jede adversive Öffnung ist als Folge eigener Entscheidungen ein Engagement für die Wahrnehmung eigener Möglichkeiten und sogar Fähigkeiten, um sich selbst Frucht zu sein.
Die in die Isolation führende Abwendung (Aversion) ist immer Folge eines Sozialisationsprozesses. Dieser kann (vor allem intrafamiliär bedingt) jedoch auch als eigener Wunsch vom Individuum interpretiert werden.
Wie ein Individuum sich als Selbst und in der Konkretion als Person sieht, ist ein Ergebnis des Widerstreits zwischen physiologischen Bedürfnissen und geistig orientierten Einstellungen.
Wunsch- oder Zielvorstellungen eines Individuums können nun erreicht werden (Erfolg als Lustförderung), oder nicht (Misserfolg als Frustration und Unlusterfahrung).
Wir können hieraus ein individuelles Schema von Lust und Unlust konstruieren, und sagen, dass dieses Schema auch die Beziehung zu anderen Individuen regelt.
Diese psychologistische“ Sicht hat etliche tiefenpsychologische Theorien als Nährmutter. Doch auch diese Milch ist verseucht durch kulturelle Implikationen. Was als Selbstbewusstsein empfunden werden könnte, ist Produkt dieser Verseuchung, und deswegen nicht wirklich Bewusstsein eines Selbst, das sich als individuelle Person äußert. Durch diese Verseuchung kann sich kein reales Selbstbewusstsein entwickeln. Der Effekt dieses Phänomens ist so restriktiv-statisch, dass nur Männer mit dem Mehr an männlichem Prinzip damit überleben können. Frauen würden an der Akzeptanz dieser kulturellen Gegebenheit zerbrechen. Deshalb entwickeln sie mit diesem Mehr an weiblichem Prinzip das Konstrukt der miesen Selbstvorstellung“. Aufgrund der eigenen, in ihrer Herkunftsfamilie erworbenen, Rollenzuordnung haben sie die Abwertung des eigenen Geschlechts erlebt. So kann diese Abwertung aufgegriffen und zur Einpassung in die kulturelle Umgebung instrumentalisiert werden. Während Männer kein Selbstbewusstsein entwickeln dürfen, um das Patriarchat nicht zu gefährden, entwickeln Frauen den Einsatz der miesen Selbstvorstellung“ als eine ihrem weiblichen Prinzip entsprechende Dynamisierung mit Forderungen nach Kompensation. Interessant daran ist, dass diese miese Selbstvorstellung“ absichtsvoll eingesetzt werden kann und damit einen Mann genau da trifft, wo er kein Selbstbewusstsein entwickeln darf. Patriarchale Konventionen und Ritualisierungen erarbeiten damit auf einer numinosen Ebene die Notwendigkeiten von Ehrfurcht und Dankbarkeit. Die arterhaltende Gebärfähigkeit einer Frau zwingt das patriarchale System, um überleben zu können, zur systematischen Rechtfertigung der Kompensationswünsche einer Frau.
Dieser durch die Patriarchalisierung bedingte Sachverhalt zwingt zu einer Normierung des Umgangs. Diese Normierungen können nur Geltung erlangen, wenn sie für alle Entwicklungschancen zulassen. Diese beziehen sich stets auf eine Vorstellung von Nutzen oder Schaden. Recht wird dadurch zu einer Systematisierung dessen, was nutzt oder für den Einzelnen nützlich ist. Unterschiedliche kulturelle Situationen haben deshalb wesentlichen Einfluss auf die Gesetzgebung. Wenn Recht auf die Gleichbehandlung aller Individuen zielen soll, muss ein neuer Rechtsbegriff her, um Nutzen und Nützlichkeit zu definieren. Das geschieht in einer Formalisierung von Recht und Gerechtigkeit. Diese Formalisierung findet sich gekonnt dargestellt in den Rechtsfiguren Sitte und Anstand, unbillige Härte, Treu und Glauben, richterliche Unabhängigkeit. So erlebt auch das Begriffspaar Recht und Gesetz“ (Art. 20 Abs.3 GG) inhaltliche Wandlungen.
Im Patriarchat gilt eine Person nur als solche, die für die Gemeinschaft eine Aufgabe erfüllt. Das sollen“ begrenzt die Freiheit und zeigt sich dadurch als ein dürfen“. Ökonomisch ist eine Person nur eine solche, wenn sie produziert, also etwas leistet. Und solcherart definierte Personen haben ein Recht auf Forderungen und Gegenleistung. Die Individuen, die dieser Personvorstellung nicht nachkommen können, sind demnach Unpersonen, rechtlos, und zu vernachlässigen. Da diese Unpersonen der Gemeinschaft nicht nutzen, dürfen sie ausgegrenzt werden.
In Deutschland wurde diese Ausgrenzung im sogenannten Dritten Reich unübersehbar praktiziert. Wer zur Zwangsarbeit nicht mehr fähig war, konnte euthanisiert werden. Derzeit ist eine Parallele unübersehbar. Der Abstieg zu Hartz IV und die Restriktionen der Gesundheitsreformen sind ein deutliches Beispiel dafür, wie weit sich die Bundesrepublik von einem Sozialstaat entfernt hat. Seit Hartz IV als Folge der Agenda 2010 von Gerhard Schröder ist ein Schwund der Mittelschicht gemessen worden. Wilhelm Heitmeyer: Die Angst der Mittelschicht vor dem Absturz ist seit Hartz IV drastisch gestiegen“ (Wiesbadener Kurier, 14.3.2008 S. 13). Schonräume können vom Sozialstaat nicht mehr gewährt werden. Das ist dem internationalen Wettbewerb geschuldet“ Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, ebd.).
Selbstbewusstsein kann nur erreicht werden in der Relation von Freiheit (Einlass, Engagement, Mut, Jasagen zur eigenen Menschlichkeit) mit einem durch Gerechtigkeit definierten Raum. Hierbei ist Gerechtigkeit nicht nur eine Forderung nach richtigem Verhalten (Ethik), sondern auch mit dem Empfinden relationiert, in diesem Raum richtig zu sein. Und der Begriff Raum bezeichnet eine dimensionierte, biotopische Größe, die durch die Wahrnehmung seiner Begrenztheit erfasst werden kann.
Diese Relation ergibt eine Klarheit des eigenen Seindürfens (ohne Furcht, Ehrfurcht und Dankbarkeit), das sich traut, Erfahrungen eigenständig erfassen (und deshalb verarbeiten) zu dürfen.
Begrenzungen dieser Freiheit und des Raumes bzw. deren Umwandlungen in einzufordernde Pflichten bzw. Einpassung führen bei Akzeptanz zur Verweigerung des eigenen Selbstseindürfens. Die Folgen sind die Umwandlung von Erfahrung in Erleidung (Passionsimus als mit Leidenschaft leiden), und damit die Reduzierung der Wahrnehmung eigener Möglichkeiten. Das Individuum wird zum Bittsteller und darf sich als Opfer widriger Umstände wähnen.
Das so genannte Lustprinzip (siehe oben) interpretiert jede auch noch so kleine Zuwendung als na endlich“ und übersieht die Minimierung seiner tatsächlichen Rechte. Das führt letztlich dazu, dass das Miteinander nur durch eine konkrete Rechtsordnung zu einer Gesellschaft wird, die sich auch als Staat definieren kann. Diese Gesellschaftsidee konstituiert die normative Umwelt auf einer abstrakten Ebene, die nicht mehr das Resultat individueller Räume und Welten zusammenfasst. Um den physiologischen Gegebenheiten aus dem Weg zu gehen, werden nicht nur Individuen und Personen ein leiblicher Körper zugeschrieben, sondern auch Zusammenschlüssen von Interessensgruppen (Körperschaft öffentlichen Rechtes, juristische Personen). Um diesen Zusammenschlüssen Rechtsräume zu eröffnen, muss das physiologisch Leibliche formalisiert werden. Dadurch wird die Gemeinschaft zu einer Gesellschaft, die sich normativ verständigen muss. Das führt zum Übersehen des Biotops, da sich Gesellschaft nur intern einigen kann, ohne Rücksicht auf die Umwelt. Handlungen des Individuums können abstrahiert betrachtet werden, und im Falle des Verstoßes gegen Normen kann eine Schuldzurechnung erfolgen wegen fehlgeleiteter Selbststeuerung. Außerdem müssen innerhalb dieses Gesellschaftsmodells individueller Umgang und individuelle Kontakte unterbunden werden, um rollengemäßes Verhalten zu fordern. Da Normbrüche der Person zugerechnet werden (keine Trennung von Person und Verhalten), wird der Zweck dieses Gesellschaftsmodells evident. Das Verständnis von Selbst und Person wird minimiert auf die Sicht der tatfähigen Personen im negativen Sinne: Person ist, wer nicht verletzt werden darf und andere nicht verletzt“ (Jakobs, 1999, S. 127).