Aus Siebel/Winkler Noosomatik Bd. I: V.III. 3.2. Zum Begriff ”normal”
Die strikte Trennung zwischen dem, was Menschen sind, und dem, was sie tun, ist die Grundvoraussetzung dafür, eine noologisch beschreibbare Störung - und nicht nur eine solche - in ihrem Sinnzusammenhang verstehen zu können.
”Der Mensch ist ...” - auf solch einen Satzanfang kann nur folgen ”... ein Mensch”. ”Der Mensch ist ein Mensch” (oder entsprechend ”ich bin ein Mensch”, ”du bist ein Mensch” usf.), das ist die einzig mögliche Aussage über das, was ein Mensch ist. Alle weiteren Zusätze betreffen stets nur Aussagen über das, was er kann, soll, darf und/oder will. Beispiel: Der Satz ”ich bin faul” ist demzufolge unwahr. Die intendierte Aussage müsste sprachlich so ausgedrückt werden: Ich kann/soll/darf/will mich faul verhalten in Bezug auf eine bestimmte Tätigkeit oder Aufgabe; anderem gegenüber verhalte ich mich fleissig. Es bleibt dann nur noch zu klären, welches der vier Verben zutreffend ist.
Wir verstehen den Begriff ”normal” am besten, wenn wir sehen, wie wir seinen Inhalt füllen aus dem Wissen um das, was wir ”unnormal” (abnorm oder anomal) nennen. Wir leiten in der Regel das ”Normale” aus dem ”Unnormalen” ab, und das unterliegt kulturellen und sozialisationsabhängigen Faktoren. Die Erkenntnis über eine mögliche Behebung einer Störung erhalten wir jedoch nur über die Erkenntnis des Sinnzusammenhanges einer Störung. Normalität ist also nicht etwas, was es in irgendeiner Form von vorneherein gibt. Sie ist erst im Hinblick auf den individuellen Menschen aus der Situation heraus zu erkennende Möglichkeit.
Dies bedeutet, dass jede Art von Störung auch die Möglichkeit enthält, ihre Überwindung oder Beseitigung zu erkennen. Jede Störung produziert also nicht nur entsprechende Probleme, sondern auch Hinweise für die Überwindung dieser Probleme, sprich: den Sinnzusammenhang selbst zu erkennen und dadurch bewusster mit den Problemen umzugehen.
Vereinfacht ausgedrückt: Die Probleme haben nicht mehr den Menschen, sondern der Mensch hat Probleme. Da er sie dann klarer sehen kann, kann er sich klarer darauf einstellen und bewusster damit umgehen, sie sind zu einer Herausforderung geworden. Unverständliche Probleme zeigen stets, dass irgendetwas nicht mehr so weitergehen kann/soll/darf/will wie bisher. Dieses Signal kommt aus den Menschen selbst heraus. Sie empfinden selbst an sich oder in ihrem ”leben” etwas als nicht normal. So sind es gerade diese Empfindungen oder Erkenntnisse, die die in Wahrheit ”belehrenden” sind: Wenn wir etwas er-leiden, stehen wir geradezu neben uns selbst und können uns genauer sehen und beobachten - das ist die uns belehren wollende Situation, aus der heraus wir eben auch etwas lernen können und die deshalb Gegenstand der analytischen Betrachtung ist. Wenn wir zufrieden sind, uns glücklich und harmonisch fühlen, erleben wir uns in Übereinstimmung mit uns selbst, sind also in uns drin - das ist die Situation, die wir geniessen können, und die nicht Gegenstand einer analytischen Betrachtungsweise werden darf, wollen wir diese angenehmen Gefühle behalten. Damit sollte deutlich werden, dass die Grundlage der nooanalytischen (ähnlich einer psychotherapeutischen wie auch jeder beraterischen) Arbeit eine realistische Einstellung ist: vom Fehler oder von der Störung soll der den Sinnzusammenhang deutende Weg zu Möglichkeiten von Korrekturen führen.
Dieser Realismus gründet sich auf das in der ganzheitlichen, vierdimensionalen (Geist, Seele, Leib und Sinn) Betrachtungsweise implizit vorhandene Wissen, dass Menschen bewusst oder unbewusst am Zustandekommen von Störungen aktiv beteiligt sind. Über die Art dieser aktiven Beteiligung stellen Theorien allgemeine Sätze auf, aus denen sie alle weiteren Aussagen ableiten. Die aktive Beteiligung äussert sich auch in der ”Normgebung”: in Bezug auf sein aversives, dogmatotisches oder psychotisches System sind die Handlungsweisen, die Empfindungen und Denkart eines Menschen ”normal” ; in Bezug auf seine Möglichkeiten oder in Bezug auf seine Umwelt mögen sie ”unnormal” erscheinen. Wir müssen also stets beim Gebrauch des Begriffes ”normal” dessen Doppeldeutigkeit berücksichtigen, infolgedessen auch die Umkehrung des Begriffes in sein Gegenteil als doppeldeutig erkennen. Die medikamentöse Behandlung wird überschätzt, wenn jemand sie allgemein als allein wirkungsvoll und begleitende kommunikative Massnahmen gar als kontraindiziert, also als nicht anwendbar oder schädlich, einstuft.
Krankheiten oder Störungen jeder Art sind nur im Sinnzusammenhang der Gesamtpersönlichkeit eines Menschen verstehbar und auch deshalb ansprechbar. Über das Miteinander von medizinisch indizierter Therapie und nooanalytischer Arbeit gilt es, eine Übereinstimmung auch für das Verständnis des ”kranken” Menschen zu gewinnen.
In diesem Zusammenhang ist es folgerichtig, die rein medikamentöse Behandlung eines Menschen als pessimistische Handlung zu bezeichnen. Auch wenn sie leider oft genug notwendig ist, gilt es zu berücksichtigen, dass ein Mensch dadurch auf seine physischen Funktionen reduziert und seine Symptomatik nur als Krankheitsbild herausgestellt werden kann, wobei die/der Behandelnde von der Funktionstüchtigkeit eines oder überhaupt des Menschen ausgehen muss und diese als gesund zu bezeichnen hat. Sie/er muss dann von einer Idee des ”Gesunden” auf die Idee des ”Kranken” schliessen, sie/er geht den Weg, das Kranke aus einer Idee der Funktionstüchtigkeit abzuleiten. Die verabreichten Medikamente stellen in aller Regel einen direkten Angriff dar auf die Symptomatik der Patientinnen und Patienten: ihre Körper sollen gezwungen werden, sich einer ”Gesundheitstheorie” zu unterwerfen.
Eine solche Behandlung ist immer “erfolgreich”: Entweder das Symptom verschwindet, ein Depressiver gibt z.B. seine düsteren Gedanken auf, oder es verschwindet nicht, dann wird/kann die Störung als besonders hartnäckig bezeichnet werden, im schlimmsten Falle fehlt es an der “compliance”, der aktiven Mitarbeit des “kranken” Menschen, der Misserfolg wird in seiner belehrenden Funktion übersehen.
Die medikamentöse Behandlung wird überschätzt, wenn jemand sie allgemein als allein wirkungsvoll und eine begleitende Psychotherapie oder Beratung gar als kontraindiziert, also als nicht anwendbar oder schädlich, einstuft. Krankheiten oder Störungen jeder Art sind nur im Sinnzusammenhang der Gesamtpersönlichkeit eines Menschen verstehbar und auch deshalb ansprechbar. Über das Miteinander von medizinisch indizierter Therapie und Psychotherapie bzw. auch Beratung gilt es eine Übereinstimmung auch für das Verständnis des “kranken” Menschen zu gewinnen. Siehe dazu die Position der sogenannten “Antipsychiatrie”, wie sie von Laing intendiert ist.
Die zunehmende Beobachtung, dass Krankheiten körperlicher Art nicht nur “körper”-lich bedingt zu sein scheinen, ist sehr ernst zu nehmen. Diese Beobachtung ist jedoch kein Beweis dafür, dass es in der Gegenwart immer mehr solcher Krankheiten gibt; sie ist ein Zeichen für die grössere Sensibilität gegenüber den Sinnzusammenhängen, die aufgrund ganzheitlicher Betrachtungsweise - bewusst oder unbewusst - entstanden ist. Ein Beispiel für diese Sicht auf den Menschen bietet das Institut der Harvard Medical School (Dana Farber Cancer Institute). Dort werden mit der medizinisch angezeigten Diagnose und Therapie auch jene Zusammenhänge be- und erarbeitet, die beim Zustandekommen einer Krebserkrankung von Bedeutung sind (Biographie, Umgebung usw.).
Diese eben genannte Übereinstimmung ist nur in einem wertungsfreien Raum möglich, in dem eine Deskription (Be-Schreibung) nicht mit einer Präskription (Vor-Schreibung) verwechselt wird. Präskriptionen beruhen auf meist unterbewusst gesteuerten Vorausurteilen, die die Sicherheit des eigenen Systems schützen sollen. Deren Kombination mit der Schuldfrage führt zu lebensstilorientierten Aussagen über andere und nicht zur achtungsvollen Annahme der Herausforderung durch aversiv geäusserte Phänomene. Die Suche nach wertungsfreien Normbeschreibungen hat zur Einführung statistischer Methoden in die Medizin geführt: